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Nüchtern

Alkoholkonsum ist in unserer Gesellschaft so normalisiert, dass es irritiert, wenn man es nicht tut. Seit ein paar Monaten habe ich selbst aus verschiedenen Gründen (vorzeitig) mit dem Trinken aufgehört und während es für mich selbst gar nicht so eine große Sache war, gab es ganz verschiedene Reaktionen aus meinem Umfeld.

 

Plötzlich musste ich mich rechtfertigen, werde bemitleidet und bedauert und ich hatte auch selbst das Gefühl von bestimmten gesellschaftlichen Codes ausgeschlossen zu sein. Kann ich überhaupt noch auf Partys gehen und in eine Bar sitzen, wenn ich mich nicht betrinke? Kann ein Abend mit Limo überhaupt Spaß machen und bin ich jetzt langweilig geworden?



Daniel Schreiber erzählt in "Nüchtern" seine eigene persönliche Geschichte und den Weg in die Nüchternheit, seine Gedanken, Ängste und Hoffnungen dabei. Seine eigene Perspektive verbindet er mit wissenschaftlichen Studien und skizziert dabei, wie sich Alkohol auf unseren Körper und Gefühlshaushalt auswirkt, auf unsere Beziehungen und welcher Zusammenhang zu unserer Arbeits- und Lebensweise besteht.

 

Er bricht bewusst mit dem Stereotyp des Alkoholikers und versucht die Stigmatisierung um Alkoholsucht auszuhebeln. Denn man muss nicht erst bewusstlos in einer Straßenecke herumliegen und zum Frühstück schon Schnaps trinken, um ein Problem mit Alkohol zu haben. Abhängigkeit ist eine Krankheit, keine selbstverschuldete Willensschwäche, aber es ist auch eine Krankheit, die einem lange sagt, man hätte sie gar nicht.

 

Daniel Schreibers Buch ist keine Anleitung zum Nüchtern-Werden, aber es kann ein Impulsgeber und eine Unterstützung auf dem Weg dorthin sein und auch dazu anregen, die Normalisierung von Alkohol zu hinterfragen. Er zeigt wie eng das Trinken in unsere Kultur integriert ist und wieso es uns auch deshalb so schwer fällt, aufzuhören.

 

Sobald man selbst mal nicht trinkt, fällt einem erst auf, wie omnipräsent Alkohol im alltäglichen Leben ist, wie normal es scheint sich zu allen möglichen Anlässen zu berauschen. Statt die Realität vollständig zu fühlen, werfen wir einen Schleier darüber, versetzen uns in rauschartige Zustände, immer wieder.

 

Am Rausch ist grundsätzlich nichts Falsches dran, aber es kann auch schnell in abgründige Bahnen lenken, wenn man die Kontrolle darüber verliert. Denn das Trinken dient nicht nur dazu positive Gefühle zu verstärken, sondern auch dazu, negative zu mildern und Schmerz zu betäuben, nach einem stressigen Arbeitstag zur Ruhe zu kommen, an einem Wochenende den Alltagsfrust zu vergessen oder tiefe Sorgen und Ängste herunterzuschlucken.

 

Letztendlich muss jeder Mensch selbst entscheiden, wie viel Alkohol das eigene Leben verträgt, Daniel Schreibers Buch ist ein guter Impulsgeber dafür.


 Fazit: 5/5 ⭐️

 

Eine ganz klare Leseempfehlung! 

 

Denn es kann unabhängig vom persönlichen Verhältnis zu Alkohol sehr erhellend sein, zu reflektieren, aus welchen Gründen man selbst trinkt und ob man schon an einem gewissen Punkt der Abhängigkeit steht. Auch für Menschen, die sich selbst einen problemlosen Alkoholkonsum zutrauen kann es augenöffnend sein, den Umgang mit Abhängigkeit und die Normalisierung von Alkohol in der Gesellschaft zu hinterfragen.

 

Wer Daniel Schreiber noch nicht kennt, sollte das dringend ändern. Ihn zu lesen fühlt sich an, als würde man sich mit dem Buch sogleich eine warme Decke über die Schultern ziehen. Auch wenn der Inhalt teilweise alles andere als behaglich ist, schafft er es durch seine Sprache immer wieder eine wohlig empathische Atmosphäre zu erzeugen.


Nüchtern

Über das Trinken und das Glück

 

von Daniel Schreiber

erschienen 2016 bei Suhrkamp


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