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Kulturelle Aneignung

 

Irgendwo zwischen Raubkunst in Museen, Karnevalskonstümen, Dreadlocks und Yoga-Kursen geht es immer wieder um Vorwürfe und Abwehr kultureller Aneignung. Aber was genau bedeutet dieser Begriff und wer definiert das überhaupt?

 

Der Autor Lars Distelhorst möchte den Begriff "Kulturelle Aneignung" in seinem gleichnamigen Buch in dessen verschiedenen Dimensionen analysieren und zeigt seinen Zusammenhang mit Rassismus und Kapitalismus auf.

 

 

 


Das der Autor selbst weiß ist, mag erstmal irritieren. Er reflektiert seine eigene Perspektive aber gleich zu Beginn und behauptet keineswegs Deutungshoheit über den Begriff. Vielmehr rückt er als Autor in den Hintergrund und lässt einer Vielzahl an Stimmen von Betroffenen und Expert*innen Raum. Als Weißer sieht er sich aber eben auch in der Verantwortung seine eigene antirassisitische Haltung nicht als selbstverständlich gegeben anzunehmen, sondern sich mit internalisiertem und verstecktem Rassismus aktiv auseinanderzusetzen.

 

Das Buch stellt keine klare Definition von kultureller Aneignung dar, sondern erarbeitet diese nach und nach, erweitert und differenziert den Begriff in seinen unterschiedlichen Dimensionen. Immer wieder kamen mir Fragen auf, die sich an einer späteren Stelle dann klärten. Den Kern des Buches macht die Bandbreite an wissenschaftlichen Diskursen aus, die hier aufbereitet und in Zusammenhang gestellt werden. Trotz der Komplexität der Thematik, ist der rote Faden deutlich und die Argumentation überwiegend einleuchtend und verständlich.

 

Inhaltlich lässt sich kaum zusammenfassen, was hier zum Begriff der kulturellen Aneignung ausgebreitet wird. Um die Argumentationslogik in ihrer Gänze zu verstehen, sollte man aber wirklich das komplette Buch lesen. Was am Ende aber deutlich geworden ist, sind drei grundlegende Dinge:

Kulturelle Aneignung ist tief in die rassistischen und kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft eingebettet, die Kritik richtet sich ebenso an diese. Gerade der Kapitalismus wird im Diskurs aber häufig außer Acht gelassen, wo er doch Kultur zur Ware macht und ihre Verwertung in Form von Aneignungen dieser Waren produziert.

 

Bei kultureller Aneignung geht es auch immer um den Kampf um Hegemonie, also die Deutungshoheit. Dabei sollten wir uns vor dem Essentialismus hüten, Menschen auf ihre Identität zu reduzieren und andere Kulturen als heterogene Gruppe zu begreifen. Bevor man sich selbst eine Meinung bildet und äußert, sollte man sich selbst zurückzunehmen und den Betroffenen und ihren unterschiedlichen Ansichten zuhören.

 

Die Diskurse um kulturelle Aneignung in den Medien, wie detailbesessen und aufgebläht sie wirken mögen, sind wichtig. Auch die kleinen Dinge tragen dazu bei, dass sich rassistische Denk- und Handlungsmuster aufrecht erhalten. Auch wenn man sich selbst nichts Böses dabei denkt, sollte reflektiert werden, inwiefern damit ein rassistisches System aufrecht erhalten wird. Es reicht nicht mehr sich selbst als antirassistisch zu definieren, man muss die Haltung immer wieder aufs Neue reflektieren und erarbeiten und vor allem auch entsprechend handeln.

 

Ein wichtiges Buch zur aktuellen Debatte um kulturelle Aneignung, das besonders weiße Menschen dazu einlädt, sich aus der eigenen Abwehrhaltung zu befreien und den Diskurs mit sich selbst und dem Umfeld einzugehen.


Kulturelle Aneignung

von Lars Distelhorst

 

erschienen im September 2021

in der Edition Nautilus

 

- Rezensionsexemplar -

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