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Unsichtbare Frauen

Geschlechterneutral bedeutet nicht geschlechtergerecht!

Der Mann gilt als Standard, die Frau als das Andere, die Abweichung von der Norm. Was Beauvoir schon vor einigen Jahrzehnten festgeschrieben hat, sitzt heute immer noch tief in unserem Denken und sorgt für erhebliche Ungerechtigkeiten und die Ignoranz gegenüber einer Hälfte der Menschheit.

 

Die Daten für das weibliche Geschlecht sind lückenhaft, sie werden ausgeblendet, erst gar nicht erforscht. Das wirkt sich in vielen Bereichen auf das Leben, die Gesundheit und Sicherheit von Frauen aus. 

 

Die Autorin Caroline Criado-Perez führt uns ein in eine Welt, die von lückenhaften Daten beherrscht wird. Auf über 400 Seiten veranschaulicht sie, wie sich diese Unsichtbarkeit in verschiedenen Lebensbereichen für Frauen sichtbar macht.


Was ist der Gender Data Gap?

 

Die Geschichte der Menschheit wurde von und für Männer geschrieben und enthält damit traditionell eine riesige geschlechterbezogene Lücke. Männer gelten als der Standard, Frauen und alle Menschen, die abseits dieser strengen Binarität der Geschlechter liegen, werden nicht mitgedacht. Solange etwas nicht explizit markiert ist, denken wir es meist automatisch als männlich und weiß und setzen diesen Status dann absolut. Die vorausgesetzte Selbstverständlichkeit dieser unausgesprochenen Identität macht alles, was davon abweicht unsichtbar und begründet die Datenlücke. 

 

Die Autorin differenziert zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender). Der Gender Data Gap bezieht sich also nicht auf das biologische Faktum, sondern auf die gesellschaftliche Zuschreibungen. In diesem binären Konstrukt werden andere Geschlechter aber nicht mitgedacht und alles abseits von den Kategorien Frau und Mann bleibt unerforscht. Leider macht die Autorin bei dem Versuch eine Datenlücke zu schließen, eine neue auf, indem sie eine Betrachtung von Personen, die nicht in dieses binäre Konzept reinpassen, komplett auslässt und ignoriert.

 

Das Problem mit der wissenschaftlichen Datenerhebung ist, dass neben der Kategorie Geschlecht auch solche wie Herkunft, sozialer Status oder Behinderungen ausgeblendet werden und darin keine Berücksichtigung finden. Dies führt dazu, dass die Benachteiligung sich immer weiter verschärft und die Datenlücke immer größer wird.

 

Wie wirkt sich der Gender Data Gap aus?

 

I. Alltagsleben

Spezifische Bedürfnisse von Frauen, die einen Großteil der Care-Arbeit übernehmen, werden nicht bei der Planung von Städten berücksichtigt. Viele Städte sind zu einem Großteil nicht darauf ausgelegt, dass man sich problemlos mit Kinderwägen, Rollstühlen oder Einkäufen fortbewegen kann, die oft Frauen transportieren müssen.

 

Der unzureichende Zugang zu öffentlichen Toiletten bringt für Frauen gleich mehrere Probleme mit sich. Das Urinieren und Wechseln von Mestruationsprodukten in der Öffentlichkeit bringt nicht nur gesundheitliche Risiken mir sich, sondern steigert die Wahrscheinlichkeit für sexuelle Übergriffe.

 

II. Arbeitsplatz

Es besteht eine erhebliche Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern. Hinzu kommt, dass Frauen häufig einen immensen Anteil an unbezahlter (Care-)Arbeit leisten. Unternehmen berücksichtigen die spezifischen Umstände von Frauen nicht und bevorzugen tendenziell Männer in ihrer Auswahl an Mitarbeitenden.

 

Frauen nehmen daher auch deutlich seltener Führungspositionen ein. Es gibt in der Wissenschaft eine große Lücke an weiblichen Vorbildern, was auch dazu führt, das Frauen zwar studieren, aber seltener eine wissenschaftliche Karriere einschlagen. Intellekt wird dem männlichen Geschlecht zugeschrieben, während Frauen als gefühlsgeleitet dargestellt werden.

 

Viele Berufen, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden, bringen große Risiken für die Gesundheit mit sich, etwa der Umgang mit giftigen Reinigungsmitteln oder die prekären Umstände in Fabriken. Dazu kommt häufig noch die Gefahr für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.

 

III. Design

Die Gestaltung von Geräten und Maschinen wird als geschlechterneutral ausgegeben, orientiert sich aber am Körper des Standart Mannes. Die meisten Smartphones sind nicht nur zu groß für die Hände von Frauen, sondern passen auch nicht in ihre Hosentaschen (wenn die überhaupt vorhanden sind).

 

Bei der Forschung für Verkehrssicherheit werden mittlerweile zwar "weibliche" Dummys verwendet, dies sind aber nur kleinere männliche Dummys, die nicht den weiblichen Proportionen entsprechen und auch keine mögliche Schwangerschaft berücksichtigen

 

IV. Arztbesuch

Die Dosierung von Medikamenten wird meist nur an Männern getestet, obwohl sie bei Frauen meist anders oder stärker wirken und damit das Risiko einer Überdosierung steigt. Der weibliche Körper und die Auswirkungen von Hormonen, werden als zu komplex eingestuft und in der Forschung kaum berücksichtigt.

 

Auch für die Diagnose von Krankheitsbilder gilt ein männlicher Standart, obwohl sich die Symptome bei den Geschlechtern signifikant unterscheiden. Das kann dazu führen, dass etwa ein Herzinfakt oder ADHS bei Frauen gar nicht oder erst spät erkannt wird.

 

Symptome von Frauen werden häufig nicht ernst genommen und als psychosomatisch eingestuft. Dies beruht auf misogynen Vorurteilen, nach denen Frauen als rätselhaft, hysterisch und irrational gelten.

 

V. Öffentliches Leben

Die Wirtschaft profitiert von der unbezahlten Arbeit, die Frauen alltäglich leisten und nimmt diese als selbstverständlich an, um das System aufrecht zu erhalten. 

 

Frauen werden im Steuersystem benachteiligt, notwendige Menstruationsprodukte werden als Luxusgüter begriffen und höher besteuert.

 

Die Politik kann sich nicht an den Bedürfnissen von Frauen orientieren, wenn die Daten über sie fehlen, daher wird ganz automatisch der männliche Status quo aufrechterhalten. Das liegt auch daran, das Frauen in der Politik noch immer nicht wirklich anerkannt werden und Hass und Gewalt erfahren, sobald sie in der Öffentlichkeit stehen.

 

VI. Katastrophen

Bei der Planung von Wiederaufbauten nach Katastrophen oder Friedensstiftungen werden Frauen nicht miteinbezogen, ihre Bedürfnisse und Rechte werden hintenangestellt.

 

Bei Naturkatastrophen oder Pandemien sterben deutlich mehr Frauen als Männer. In Kriegsgebieten, als Obdachlose oder auf der Flucht sind sie häufiger sexueller Gewalt ausgesetzt und haben keine Schutzräume oder Zugang zu ausreichend gesundheitlicher Versorgung.

 

Welche Folgen hat der Gender Data Gap?

 

Die Liste an Erkenntnissen, die wir durch den Ausschluss von Frauen in allen Bereichen der Wissenschaft wohl schon verloren haben, soll sich nicht weiterführen. Die traditionelle Wissenschaft war bislang  eine männerdominierte Sphäre, was nicht am Mangel von intelligenten Frauen lag, sondern am Mangel ihrer Beachtung.

 

Die Daten sind blind für den weiblichen Körper und führen zu einer Gestaltung der Welt, die auf den männlichen Standard ausgerichtet ist, an den sich Frauen anzupassen haben. Das schränkt sie nicht nur in der freien Gestaltung ihres Lebens ein, sondern bringt auch Gefahren mit sich.

 

Aber diese Lücke betrifft nicht nur Frauen, sondern alle, die nicht cis männlich sind. Die Erhebung der Daten sollte sich nicht nur auf die Erweiterung um den weiblichen Körper richten, sondern eine differenzierte Ansicht etablieren, bei der das breite Sprektrum an Geschlechtern berücksichtigt wird.

 

Die Lücke an geschlechter- und genderbezogenen Daten kann nur durch mehr Repräsentation von Frauen* (!) geschlossen werden. Wenn Frauen* also an Entscheidungsprozessen und der Datenerhebung in der Wissenschaft und Forschung teilnehmen, werden auch ihre Bedürfnisse und Perspektiven miteinbezogen.

 

Die vermeintlich unlösbare Frauenfrage lässt sich also ganz einfach beantworten: indem mann die Frauen* fragt!


Ergänzung

Wie schon erläutert, ist das Buch sehr stark binär gedacht. Das hat mich beim Lesen zwar auch etwas gestört, aber ich bin davon ausgegangen, dass dies an der Datenlage liegt und habe es einfach so hingenommen. Ich wurde nun aber netterweise darauf hingewiesen, dass die Autorin nicht nur alles jenseits der binären Konzeption in ihrem Buch ignoriert, sondern sich auch öffentlich transfeindlich äußert.

 

Die Erkenntnisse, die dieses Buch liefert bleiben trotzdem von großer Bedeutung. Dennoch lässt die Autorin bewusst bestimmte Gruppen von Menschen aus und leugnet damit ihre Relevanz für die Forschung. Ihr Wunsch nach Geschlechtergerechtigkeit und der Berücksichtigung von Frauen richtet sich eben nur auf Cis-Frauen und das reicht nicht. Dazu kommt, dass "Frau" hier sehr eng gefasst wird und immer mit bestimmten Attributen wie Mutterschaft und bestimmten Körperformen verbunden wird.

Unsichtbare Frauen

Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert

 

von Caroline Criado-Perez

übersetzt von Stephanie Singh

erschienen im März 2020 im btb Verlag

 

(selbstgekauft, unbezahlte Werbung)

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